Ein ganz normaler Tag im Leben eines „Blindgängers“

Ein Bericht von Helmut Sova

Es ist Donnerstag 5 Minuten vor 8 Uhr. Meine 4-jährige Labrador-Hündin namens Emma hat bereits eine halbe Stunde Freilauf hinter sich. Jetzt beginnt ihr Arbeitstag. Ich streife ihr das Führgeschirr über den Kopf und schon kann es losgehen. Ich muss den Bus um viertel nach acht nehmen, damit ich um 10:15 in meiner Vorlesung an der Universität Siegen sitzen kann. Ich bin 65 Jahre alt und studiere dort Philosophie und Geschichte. Bei einer Anreise mit einem PKW könnte ich noch mindestens 1,5 Stunden Zeitung lesen oder mich anderweitig beschäftigen. Aber der Bus von Olpe nach Kreuztal fährt nur jede Stunde und der nächste Abfahrtstermin um 9:15 Uhr käme für mich zu spät. 

Den Weg durch mein Dorf absolviert Emma normalerweise problemlos, aber heute ist Mülltonnentag. An diesem Tag stellt jeder Einwohner seine Mülltonne zur Abholung auf den Gehweg. Dieser ist aber meist nur knapp über einen Meter breit. Mein treuer Hund läuft bis zur Mülltonne und bleibt nun stehen, um mir das Hindernis zu signalisieren. Ich taste mit meinem Stock nach vorne und lausche nach Verkehrsgeräuschen. Wenn nichts zu hören ist, gehe ich die Bordsteinkante nach unten und laufe auf der Straße an der Mülltonne vorbei. Danach wechsle ich wieder auf den Gehweg. Dieser Vorgang wird sich auf dem etwa 1 Kilometer langen Fußweg noch etwa 20-mal wiederholen. Ich habe bereits vor 2 Jahren bei der Gemeinde angefragt, ob es nicht möglich sei, die Mülltonnen auf der Straße zu deponieren. Dies auch vor dem Hintergrund, dass die Straßenverkehrsordnung keinerlei Hindernisse auf den Gehwegen duldet. Die Antwort der Gemeinde war erwartungsgemäß ablehnend. Ich warte jetzt, bis sich eines Tages die Rollator-Fahrer beschweren und vielleicht einen Sinneswandel herbeiführen. Emma und ich haben den Hindernislauf mittlerweile perfektioniert. Somit stehen wir um 8:10 an der Bushaltestelle. Der Bus kommt meist sehr pünktlich um viertel nach 8 Uhr. Die Busfahrer auf dieser Strecke sind äußerst hilfsbereit und parken sehr eng an der Bordsteinkante und senken sogar das Fahrzeug ab. Dieses Verhaltensmuster wird sich leider in Siegen vollkommen verändern. 

Im Bus bekommt Emma ihre erste Ruhephase und schläft nun bis zum Bahnhof Kreuztal. Dies kann für diese kurze Strecke gut und gerne eine halbe Stunde dauern, weil in Fellingshausen um diese Uhrzeit Dauerstau herrscht. Ich frage mich, welcher Berufstätige tut sich jeden Tag diesen Verkehrsstress an. Die meisten Strecken wären bei vernünftigen Radwegen mit einem E-Bike bequemer und auch schneller zu bewältigen. Aber diese Radwege gibt es in den Niederlanden oder in Dänemark, aber keinesfalls bei uns. Warum eigentlich nicht?  

Als ich noch keinen Führhund hatte, stellte der Bahnhof in Kreuztal ein unüberwindliches Hindernis für mich dar. Der Weg am Bahngleis entlang bis zur Treppe, um an den gegenüber liegendem Bahnsteig zu gelangen, ist mit Blumenkästen, Werbeschildern, Fahrkartenautomaten und Getränkeautomaten komplett zugestellt. Für die Blinden ist ein Leitstreifen knapp an der Bahnsteigkante vorgesehen. Der Blinde, der dort mit seinem Stock entlang tapert, ist entweder lebensmüde oder hat Nerven wie die Bauarbeiter auf einem New Yorker Wolkenkratzer. Dies auch, weil auf diesem Gleis manche Züge ungebremst durchfahren. Selbst mein stets optimistischer Mobilitätstrainer hat an diesem Bahnhof kapituliert. Für Emma ist das allerdings gar kein Problem. Sie läuft im Eiltempo Slalom mit mir durch den Hinderniswirrwar des Bahnhofs bis zur Treppe, die sie erneut durch Stehenbleiben anzeigt. Die einzige Aufgabe, die mir obliegt, ist mit Emma Schritt zu halten und ihr im wahrsten Sinne des Wortes blind zu vertrauen. Dies ist manchmal gar nicht so einfach. Am gegenüberliegenden Gleis angekommen, warten wir nun auf einen Zug nach Weidenau und hoffen, dass dies nicht die Diesellock nach Betzdorf ist. Da kommt er auch schon und ich höre es, dass mein Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist. Dieser Zug ist gefühlt einen halben Meter niedriger als die Bahnsteigkante. Emma findet den Eingang vom Zug problemlos, bleibt aber nun stehen, um das Hindernis anzuzeigen. Ich versuche mich mit meinem Stock heranzutasten. Auf mein Kommando springt Emma einen gewaltigen Satz in den Zug und reißt mich hinterher. Ich war in meiner Jugend Weitspringer. Diese erlernte Technik ermöglicht mir eine unfallfreie Landung. Im Zug bleiben wir stehen, weil wir bereits nach wenigen Minuten wieder aussteigen müssen. 

Am Bahnhof Weidenau angekommen, benötige ich nun erstmals Hilfestellung. Dort hat man einen Treppenabgang wegen Bauarbeiten geschlossen und den gegenüberliegenden Abgang kann Emma nicht erkennen. Da hier viele Studenten unterwegs sind, bleibt die helfende Hand nicht lange aus. Von der Treppe bis zur Haltestelle der UX2 ist es nun für Emma und mich reinste Routine. Dennoch warten nun große Probleme auf mich. 

Das Hauptübel besteht in der Unzuverlässigkeit der Universitätsbusse. Nicht erst seit Corona gibt es immer wieder Ausfälle im Fahrplan. Es kann also geschehen, dass ich fast eine halbe Stunde an der Haltestelle warte, um dann festzustellen, dass mein Bus um 9:30 nicht fährt. Leider gibt es zu diesen Ausfällen keinerlei Ankündigungen. Dies hat dazu geführt, dass an der UX Haltestelle kaum noch Kommilitonen warten, da diese auf die anderen Linien ausweichen. Für mich ist es allerdings unmöglich, an diese regulären Haltestellen zu kommen. Einerseits weil dies recht kompliziert ist und Emma zudem nicht darauf trainiert ist. Mir bleibt dann nur die Möglichkeit, mich bei anderen Kommilitonen durch Rufen bemerkbar zu machen. Ich habe dem Asta den Vorschlag unterbreitet, die reguläre Linie von der gleichen Haltestelle fahren zu lassen, wie die UX-Busse. Zumindest in der Zeit, wo es häufig Ausfälle gibt. Leider blieb diese Anregung ohne Erfolg. Glücklicherweise findet sich auch hier stets eine helfende Hand, um an die andere Haltestelle zu gelangen. 

Dass die Freundlichkeit der Busfahrer aus dem Sauerland längst einer Siegerländer Gleichgültigkeit gewichen ist, habe ich bereits angedeutet. Bemerkenswert bleibt, dass sich dieses Verhalten sofort auch auf die unterschiedlichsten Nationalitäten, die im Busgewerbe tätig sind, überträgt. Ich kann ab sofort weder mit Auskünften noch mit Erleichterungen durch die Fahrer rechnen.

Am Campus angekommen, kann ich mit der Hilfe meines Führhundes alle Hindernisse, die diese Universität in großer Anzahl für einen behinderten Menschen bereithält, selbständig lösen. Dennoch sehe ich genügend Handlungsbedarf für unsere Integrationsbeauftragte tätig zu werden. Den Anfang könnte man bereits am Zugang des Adolf-Reichwein-Campusses machen. Dort ist eine absurde Schikane eingebaut, die für einen blinden Menschen ohne Führhund unüberwindlich erscheint. Emma läuft mit mir über die Bordsteinkante auf dem Grünstreifen an dieser Sperre vorbei. Dass das Uni-Gebäude alles andere als barrierefrei ist, muss ich an dieser Stelle nicht noch zusätzlich erwähnen. Optimistisch stimmt mich zu Beginn des Tages stets, dass ich es bisher immer pünktlich in meine Vorlesung geschafft habe.

Meine Rückreise ins südliche Sauerland gestaltet sich absolut vergleichbar zu der Anreise, mit einem großen Unterschied. Mein Bus in Kreuztal fährt derart ungünstig ab, dass ich ihn stets knapp verpasse. Dies bedeutet eine knappe Stunde Wartezeit. 

Mein Bachelorstudium endet mit diesem Semester. Ein weiterführendes Studium mache ich von wesentlich verbesserten Anreisebedingungen abhängig.Man darf doch wohl noch Träume haben.

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